Andacht Februar 2016

01. Februar 2016

Wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann vergebt ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt. (Matthäus 11,25)

In meiner Kinderzeit haben sich die Nachbarn gegenseitig verdächtigt. Die jeweils andere Gruppe mit ihrer Glaubenspraxis „zur Kirche zu gehen“ wurde kritisch beäugt. Versteckt wurde dabei vorgehalten: Dort betet ihr und dann macht ihr sofort wieder das Gegenteil. Für mich führten diese Verdächtigungen dazu den Anderen besser verstehen zu wollen.
Ähnlich erlebe ich heute die Verdächtigungen gegenüber anderen Glaubensformen. Dabei wird der Alltag an vermuteten ethischen Grundsätzen gemessen und beurteilt. Meistens führt es zur Ab- und Ausgrenzung des Anderen.
Ganz anders begreife ich Jesus Christus mit seiner Aussage zum Beten. Ich verstehe wie er Menschen in Gespräche gebracht hat. Mit Anderen in Harmonie leben, in wertvollen Gesprächen bleiben, kann ich nur, wenn ich bereit bin auch verborgene Beweggründe und Vorbehalte anzusehen. Verborgene Vorbehalte führen im Miteinander oft zu Vorwürfen. Zugleich wird das Gespräch kalt. Es bleibt stecken.

Wie befreiend es sein kann, auf den Anderen zuzugehen, etwas anzusprechen und erst danach zu beten, habe ich bei einem Besuch erlebt. Da hieß es: Und die soll ruhig wegbleiben. In der Stimme war Ärger, Trauer und verhaltene Wut zu spüren. Doch dann kam sie doch. Sie wollte genauso wie die Anderen ihren letzten Abschied von der gerade verstorbenen Mutter nehmen. Nach 16 Jahren betrat sie zum ersten Mal wieder das Elternhaus. Mit dem Vater ging sie zur Verstorbenen. Sie kniete nieder, streichelte noch einmal das Gesicht - und bekam Hilfe als sie vom Boden wieder aufstehen wollte. Danach konnte sie im Gespräch von einer schweren Krankheit und den eigenen Enkeln erzählen. Für den Urgroßvater war das alles neu. Er bat um einen Bildabzug der Handy-Bilder. Dabei kamen sie sich wieder näher. Gemeinsam wählten sie die Kleidung für die Verstorbene aus und gaben sie den Mitarbeitern des Bestattungshauses mit. Für mich war das gemeinsame Vaterunser-Gebet an der Totenbahre ein Gebet, in dem der vorherige Graben überbrückbar und neue gemeinsame Wege wieder denkbar sind. Verfehlungen waren vergeben - „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“.

Pastor Reinhard Niehaus, KK Bremerhaven