Andacht Oktober 2022

01. Oktober 2022

Ganz und gar nicht machtlos

Wir sind es gewohnt zu sagen: In Afghanistan herrscht Krieg. Oder: Im Jemen herrscht Krieg, oder in Kolumbien herrscht Krieg, in Somalia herrscht Krieg, in Syrien herrscht Krieg, in der Ukraine herrscht Krieg ... 22 Kriege zwischen Ländern und 6 sog. bewaffnete Konflikte werden im Jahr 2021 gezählt.

Und immer fühlt es sich so an, als sei das alles sehr weit weg. „Zum Glück“ möchte man fast sagen. Zum Glück ist das alles sehr weit weg. Und ich merke, wie mich dieser Gedanke erleichtert – und im nächsten Moment auch wieder beschämt. Beschämt, weil ich mich in Sicherheit wiege, während andere von Gewalt, Hunger und Tod bedroht sind.

Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich dieses Gefühl gewandelt. Der Krieg steht jetzt plötzlich quasi vor der Türe, er wird real, greifbar. Die Zukunft erscheint unsicher, noch unberechenbarer.

Die wirtschaftlichen und damit auch die sozialen Folgen werden inzwischen für jeden von uns sichtbar. Den Krieg in der Ukraine spürt man nicht nur dort, wo mit Waffengewalt willentlich getötet wird. Man spürt ihn auf der ganzen Welt.

Und, egal, ob man das möchte oder nicht – früher oder später sieht man sich gezwungen, sich in irgend einer Weise politisch dazu zu positionieren. Ein Problem, vor das sich in besonderer Weise russische und ukrainische Besatzungsmitglieder an Bord von Schiffen seit dem russischen Angriff gestellt sehen.

Ich habe mittlerweile viele Schiffe besucht, auf denen sowohl russische, als auch ukrainische Seeleute waren, wo das Miteinander dennoch weiterhin funktionierte. Wo es gelungen ist, zwischen der Person an Bord und den Entscheidungen einer politischen Elite zu unterschieden.

Ich habe aber auch einen Seemann kennengelernt, der in Istanbul sein Schiff mit mehrheitlich russischer Besatzung verlassen musste. Gleichzeitig ist seine Familie aus dem stark umkämpften und zerstörten Odessa geflohen. Hier in Bremerhaven hat die Familie dann schließlich wieder zusammengefunden - mit nichts in der Hand, als ein paar Koffern, die sie tragen konnten. Und in dem Wissen, dass das ehemalige Zuhause, alles was sie sich bis dahin im Leben aufgebaut hatten, vollständig zerstört und auf immer verloren ist.

Ich habe mit ukrainischen Seeleuten gesprochen, die sich die Frage stellten, ob sie nicht zuhause für ihr Land (und ihre Angehörigen) an der Front kämpfen sollten. Doch woher kommt dann das Geld für die Familie? Und überhaupt: wie geht es eigentlich der Familie? Die Kontaktaufnahme ist wenn überhaupt meist nur in den Häfen möglich. Da liegen Wochen völliger Ungewissheit hinter ihnen und auch wieder vor ihnen, sobald das Schiff den Hafen wieder verlässt.

Ich weiß von russischen Seeleuten, die auch nach Ablauf ihrer Verträge nicht von Bord und nach Hause können, weil es keine Flüge nach Russland gibt; die kein Geld an die Familie schicken können, weil der Zahlungsverkehr nach Russland eingeschränkt ist.

Es ist also deutlich, dass dieser Krieg sich längst nicht auf umkämpfte Gebiete beschränkt, sondern Menschen auch weit außerhalb der Landesgrenzen in Not bringt.

Zu beginn sprach ich von meinem Gefühl der Beschämung, weil es mir hier so gut geht, während andernorts Menschen leiden oder gar sterben. Die Erfahrung ist ja, dass wir als Einzelne dem Handeln der Konfliktparteien kaum etwas entgegen zu setzen haben. Aber das heißt nicht, dass wir nichts tun können!

Gerade in Bezug auf die Seeleute arbeiten wir als Deutsche Seemannsmission sehr daran, betroffenen Menschen zu helfen. Und zwar vollkommen ungeachtet ihrer Nationalität. Wir geben die Möglichkeit, zur Kontaktaufnahme mit Angehörigen, wir geben Unterkunft, wir leisten Hilfe bei Kontakt mit Behörden, wir geben Gelegenheit zu Gesprächen und vieles mehr. Mit einem engagierten Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen setzen wir uns ein für die Würde der Seeleute.
Das heißt nun aber: Auch wenn es sich vielleicht oft so anfühlt - wir sind ganz und gar nicht machtlos.

Despoten haben selten Angst vor Waffen und Gewalt. Aber Despoten haben Angst vor dem Widerspruch. Darum sagen wir unser lautes und deutliches NEIN! Zu diesem Krieg.

Uwe Baumhauer
Seemannspastor DSM Bremerhaven